Publiziert vom 22.5.22 bis 28.5.22 in den „täglichen Impulsen“ des NetzwerkEINS – die Impulse können gratis via Website www.netzwerkeins.ch abonniert werden,
1. Alles hat seine Zeit auf Erden
Ein volles gutes Leben geht zu Ende. Eine schwere Krankheit bricht die ganze Autonomie weg und lässt die urmenschliche Verletzlichkeit aufscheinen. Nichts geht mehr … nur noch Dasein in hilfloser Abhängigkeit. Leiden und warten auf Erlösung.
Es ist hart, das auszuhalten und zu akzeptieren – für den Betroffenen selbst wie auch für seine emotional verbundenen Mitmenschen.
Alles hat seine Zeit – auch ein geglücktes gelungenes Leben führt unweigerlich zum Tode.
2. Alles hat seine Zeit auf Erden
Beim Begleiten dieses beklemmenden Sterbeprozesses – dieser unverhüllbaren Endlichkeit – leuchtet unvermittelt die Schönheit der Schöpfung in meinem Empfinden und in meinen Gedanken auf:
Er wird nie wieder dieses Krankenbett verlassen können, um in den spriessenden Frühling hinaus zu gehen …
Nie mehr einen Sommer erleben und die Sonne auf seiner Haut spüren …
Wie gerne würde ich ihm jetzt frisch geschnittenes Heu ans Krankenbett bringen, das so wunderbar duftet …
3. Alles hat seine Zeit auf Erden
Im Angesicht des Todes bekommt das Alltägliche eine heilige Dimension.
Nur schon der Geschmack von Brot, das er nie mehr essen kann, wird zu etwas ganz Besonderem und jede Vogelstimme zu einem fröhlichen Lobgesang. Die aufgehenden Blüten erfassen mich mit Traurigkeit, weil er sie nicht mehr sehen kann.
4. Alles hat seine Zeit auf Erden
In unzähligen Ratgebern wird empfohlen, sich den letzten Tag im eigenen Leben vorzustellen, mit dem Hintergedanken, sich noch tiefer der Schönheit der Schöpfung gewahr zu werden.
Das hat tatsächlich etwas – doch gleichzeitig müssen wir uns öffnen für das Herausfordernde, das mit dem Sterben verbunden sein kann, trotz moderner Medizin und Einheitserfahrungen.
Der Sterbeprozess ähnelt einer Geburt, meistens geht es nicht ohne Schmerzen und kleinere oder grössere Komplikationen.
5. Alles hat seine Zeit auf Erden
Die ganze Schöpfung – mit all ihrer Schönheit, Mittelmässigkeit und ihrem Schrecken, je nachdem, wie wir sie bewerten, ist vergänglich und wird ständig neu geboren. Das macht sie aus und gilt sowohl für ihre materiellen wie auch geistigen Formen.
Wir sind Teil davon und eingebunden in diesen steten Prozess von:
Er-Zeugen, Wachsen, Reifen, Verwelken und Sterben, um neue Formen zu befruchten.
Und dies alles geschieht in ETWAS, beschreiben wir es als einen offenen, geheimnisvoll lebendigen, stillen und vermeintlich leeren Raum:
Der Urgrund des Sein? Gott? Allumfassende Liebe? Licht? Pulsierende Gegenwart?
Diese ureigene Form zu werden – und wieder zu vergehen – ist Glückseligkeit, Herausforderung und Erlösung zugleich.
6. Alles hat seine Zeit auf Erden
Es gibt das bekannte Gebet von Bruder Klaus, das dem Sterbenden neben anderen alten Gebeten viel Halt gab, um all das Schmerzhafte und letztlich Ungewisse auszuhalten:
„Mein Herr und mein Gott, nimm alles von mir, was mich hindert zu Dir.
Mein Herr und mein Gott, gib alles mir, was mich führet zu Dir.
Mein Herr und mein Gott, nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen Dir.“
Der Sterbende wurde dahin geführt, dieses Gebet jetzt radikal zu bejahen. Es blieb ihm keine andere Wahl.
7. Alles hat seine Zeit auf Erden
Der Verstorbene hatte ein volles, gutes Leben. Seine letzten zwei Lebensmonate waren geprägt durch eine sehr schmerzhafte Krankheit. Ihm wurde alles genommen. Er war hilflos und abhängig wie ein Baby – und dies bei vollem Bewusstsein.
In seinen letzten Tagen und Stunden drang durch seine unverhüllte Verletzlichkeit und Ohnmacht – und seine immer wieder spürbare Präsenz (trotz Morphium) – eine durchscheinende Zärtlichkeit – sein Wesen pur? Still, radikal offen, lebendig und voll in Beziehung – Urgrund aller Schöpfung?
Ich fühle mich reich beschenkt durch diese letzten Begegnungen und getröstet durch sein friedvolles Gesicht am Ende seines Lebens.
Madeleine Vonlanthen